Der Tag, an dem die Spiele stillstanden – Interview mit Petra Mattfeldt zu ihrem neuen Roman München 72

Petra Mattfeldt
(c) Petra Mattfeldt

Liebe Petra, vielen Dank für Deine Zeit und die Chance, ein wenig mit Dir über Dein aktuelles Buch zu plaudern.

Am 25. Juli 2022 erscheint „München 72 – Der Tag, an dem die Spiele stillstanden“. Doch eigentlich hattest Du gar nicht vor, ein Buch zu dem Thema zu schreiben? Wie kam es dazu, es dennoch zu tun?

Petra Mattfeldt
(c) Petra Mattfeldt

Ich bin bei der Recherche für eine andere Geschichte im jüdischen Museum in München gewesen. Dort habe ich zufällig eine Zeittafel mit Verbrechen gegen Juden gesehen, auf der auch die Olympischen Spiele 1972 aufgeführt waren. Natürlich kannte ich die Ereignisse grob, aber sie dort kurz geschildert zu sehen, hat etwas mit mir gemacht. Ich kann es nicht genau erklären, doch ich wusste, dass ich die Schicksale hierzu beschreiben wollte. Ich habe mich in das Thema eingelesen und bei all den nüchternen Schilderungen des Ablaufs der Geiselnahme bis hin zur Katastrophe fehlten mir die Emotionen, die Gefühlswelten. Was haben Opfer, Täter und Unbeteiligte wohl während dieser Zeit gedacht und gefühlt? Ich wollte die Ereignisse greifbar machen.

Ein zentraler Aspekt war hier der Nah-Ost-Konflikt. Auch hier hatte ich zwar eine grobe Ahnung, was zentrale Streitpunkte sind, kannte mich aber ehrlich gesagt nicht so gut aus, wie ich gerne gehabt hätte. Deswegen habe ich mich auch hier eingelesen, weil es mir wirklich wichtig war, korrekt zu beschreiben, wie die israelische und die palästinensische Seite sich rechtfertigen, um hier nicht zu verfälschen. Gleichzeitig habe ich auch andere Konflikte eingebracht, zum Beispiel den zwischen der BRD und der DDR, um tatsächlich ein Gefühl für die Zeit und die Spiele 1972 zu vermitteln.

Du sagst, es ist ein Perspektivenroman geworden. Was können wir uns darunter vorstellen und wie kamst Du auf die Idee, das Buch als Perspektivenroman anzulegen?

Ich habe mir die Frage gestellt, wie unterschiedliche Personen die Spiele 1972 und letztendlich den Anschlag erlebten. Um einen Einblick in unterschiedliche Bereiche zu ermöglichen, habe ich insgesamt fünf verschiedene Hauptfiguren ausgewählt.

-Eine junge Bogenschützin aus der DDR, die während der Spiele das erste Mal von zuhause weg ist und ein anderes Leben kennenlernt

-Ein junger israelischer Sportler, der für Israel antritt und voller Hoffnung ist, für sein Land eine Medaille zu erringen

-Ein palästinensischer Attentäter der Gruppe Schwarzer September, die die israelische Unterkunft überfallen

-Ein jüdischer Journalist, der sich dafür gemeldet hat, den israelischen Sportler München zu zeigen

-Ein Polizist, der einige Sicherheitsbedenken hat und plötzlich in den Anschlag reingezogen wird

Im Buch stelle ich die starken Gegensätze an Emotionen dar, die Vorfreude auf die „heiteren“ Spiele, die Euphorie, das erste Mal das Stadion zu betreten und auf der anderen Seite die Angst und die Panik, als die Spiele von der Geiselnahme des israelischen Teams erschüttert werden.

Mir war wichtig, die unterschiedlichen Personen zu Wort kommen zu lassen und auch verschiedene Weltbilder zu zeigen. Es soll keine Rechtfertigung für Gewalt in irgendeiner Weise darstellen, aber dadurch, dass wir die Hintergründe zeigen, ermöglichen wir auch ein tieferes Verständnis, was die Menschen zu ihren Taten getrieben hat.

Deine Personen sind also alle fiktiv? Hatten sie denn reale Vorbilder, an denen Du Dich orientieren konntest?

Die Personen sind fiktiv, allein schon, weil ich mir auf keinen Fall anmaße, die tatsächlichen Emotionen und Gedanken der beteiligten Menschen zu kennen. Die Figuren beruhen aber auf realen Personen, zumindest teilweise.

-Der palästinensische Attentäter ist zwei Attentätern nachempfunden, die an dem Anschlag beteiligt waren. Hier habe ich Teile der Lebensgeschichte übernommen, um realistisch darstellen zu können, was jemanden dazu bewegt, sich einer solchen Sache anzuschließen.

-Der israelische Ringer beruht auf einem jungen Ringer, der tatsächlich an den Olympischen Spielen 1972 teilnahm. Ich habe auch hier Teile seiner Lebensgeschichte und vor allem seine grundlegende Motivation übernommen, zu ringen: Er wollte sich – damals noch in Russland lebend – gegen Antisemitismus und Anfeindungen wehren und lernen, sich zu verteidigen.

-Der jüdische Journalist beruht auf Richard C. Schneider, der tatsächlich das jüdische Olympiateam betreut hat.

Im Nachwort habe ich genauestens beschrieben, was Fakt und was Fiktion ist, damit dies ganz klar nachvollziehbar ist.

Konntest Du Zeitzeugen finden und Dich mit ihnen unterhalten? Standen sie Dir vielleicht sogar beratend zur Seite? Wie lief die Recherche allgemein bei Dir ab?

Der eben schon erwähnte Richard C. Schneider und ich standen im engen Austausch, während ich das Buch geschrieben habe. Er war damals als junger Mann Betreuer des israelischen Olympiateams und hat die Sportler begleitet und sie kennengelernt. Er konnte mir viele Abläufe erklären und Aktivitäten nennen, die mir sehr weitergeholfen haben. Von ihm habe ich also sehr viel erfahren, um die Tagesabläufe realistisch zu rekonstruieren.

Bei der sonstigen Recherche konnte ich mich auf eine Vielzahl von Quellen verlassen. Ich denke, dass wenige Ereignisse so gut dokumentiert sind wie dieses. Es gibt genaue Daten zu den Planungen und Abläufen der Spiele, zu den Sportarten, den Bauten und den Sicherheitsbedenken, die vorab geäußert wurden. Und die Geiselnahme selbst ist ebenfalls genauestens dokumentiert, es gibt mehrere genaue Zeitabläufe, wann was passiert ist und wie darauf reagiert werden sollte. Außerdem konnte ich auf ehemals geheime und jetzt offen verfügbare DDR-Dokumente zugreifen, die geholfen haben, die Spannungen und konkreten Maßnahmen im Kampf von BRD und DDR besser zu verstehen. Ich kann sagen, dass ich für kein Buch mehr recherchiert habe als für dieses.

Mir war wichtig, die kritische Aufarbeitung der völlig überforderten Behörden aufzugreifen und die vielen Fehler, die im Sicherheitsbereich gemacht wurden, aufzuzeigen, schließlich wurde nach den Spielen 1936 mit allen Mitteln versucht, sich weltoffen zu präsentieren, was letztlich zu sehr schlechten Sicherheitsbedingungen führte, die den Anschlag definitiv begünstigten.

Und die Spiele liefen einfach weiter?

(c) onacadan via pixabay.com

Ja, die Spiele liefen zuerst weiter, obwohl es Geiseln des israelischen Olympiateams gab und zu der Zeit bereits zwei Geiseln getötet worden waren, wobei eine auf jeden Fall bekannt war. Allein dies zeigt die völlige Überforderung und Fehleinschätzung der Lage. Zunächst wurde der Fortgang der Spiele nur einige Stunden nach hinten verschoben, was angesichts der Lage für viele Juden so wirkte, als sei das Leben der Geiseln weitestgehend egal. Richard C. Schneider hat mir hier eindrucksvoll geschildert, wie er bei seinem Vater in der Synagoge war und sie sich kurzerhand entschlossen, offen Solidarität zu bekunden und gesehen zu werden und sich nicht mehr zu verstecken.

Letztlich wurden die Spiele angehalten, besonders als es am Flughafen Fürstenfeldbruck zur völligen Katastrophe kam, alle Geiseln, ein Polizist und alle bis auf drei Attentäter getötet wurden. Daraufhin gab es zumindest einen Tag der Trauer, die Spiele wurden jedoch letztlich fortgesetzt.

Drei Geiselnehmer haben also überlebt und wurden nach Tripolis ausgeflogen. Wie ging es mit ihnen weiter?

Es ist sehr eindrucksvoll in Interviews beschrieben, wie die drei überlebenden Attentäter freigepresst und nach Tripolis geflogen wurden. Sie wurden herzlich empfangen, viele Menschen solidarisierten sich offen mit ihnen und feierten sie als Helden. Genauso gab es Heldenbeerdigungen für die getöteten Attentäter. Dies zeigt, wie groß der gegenseitige Hass war – und noch heute ist. Wer sich über die Konflikte in Israel informiert, der weiß, dass dieses Thema nicht rein mit Opfern und Tätern zu betrachten ist. Es gibt eine systematische Unterdrückung von Minderheiten und regelmäßige Ausschreitungen bis hin zu Attentaten. Auf beiden Seiten sterben viele Unschuldige und es ist kein Ende dieses Konflikts in Sicht.

Beispielsweise gab es nach dem Olympia-Attentat eine Racheaktion des israelischen Mossad namens „Zorn Gottes“, bei der die Attentäter und Drahtzieher hinter dem Anschlag ausgeschaltet werden sollten. Hierbei gab es auch einige Unbeteiligte, die unschuldig getötet wurden. Auf der anderen Seite gingen auch Anschläge, Flugzeugentführungen und Geiselnahmen weiter.

Siehst Du einen Bezug zur heutigen Zeit?

Auf jeden Fall, die Konflikte, die noch heute regelmäßig eskalieren – und vor denen wir zumindest teilweise die Augen verschließen –, sind dieselben wie schon damals. Der Konflikt geht auf die israelische Unabhängigkeitserklärung und den darauffolgenden Palästinakrieg zurück, er begann aber eigentlich schon deutlich früher. Olympia 1972 stellt dabei einen weiteren Eskalationspunkt in einer langen Reihe von Ereignissen dar, bei denen vor allem unschuldige Menschen leiden und sterben mussten, so wie es noch heute der Fall ist.

Was hat Dich persönlich an der Geschichte berührt? Was hat Dich nicht mehr losgelassen? Wieso war es Dir ein Anliegen, dass das Buch unter Deinem richtigen Namen erscheint?

Mich haben die Schicksale extrem berührt, so sehr, dass ich ja überhaupt erst darauf kam, darüber zu schreiben, um die Emotionen hinter den Fakten greifbar zu machen. Als ich mich eingearbeitet und mit dem Schreiben begonnen hatte, habe mich die fruchtbaren Schicksale bis in die Träume verfolgt. Es war immer wieder eine Herausforderung, sich mit den Geschichten der Opfer und den Hinterbliebenen zu beschäftigen. Einige von ihnen haben ihre Familien während der Shoah verloren. Sie kamen nach Jahren nach Deutschland zurück, um friedlich ihrem Sport nachzugehen. Das hat mich einfach nicht mehr losgelassen. Insoweit war ich erleichtert, als ich das Buch beendet hatte, denn es war eine starke Belastung für mich, einfach weil ich wirklich alles geben wollte, um die Sachverhalte richtig zu beschreiben und niemanden falsch darzustellen oder gar zu verletzen.

Deswegen war mir auch die Unterscheidung zu meinen Pseudonymen, unter denen ich historische Romane schreibe, wichtig. Dies ist nämlich kein einfacher historischer Roman, bei dem ich fiktiv eine Geschichte schreibe, die berühren und mitnehmen soll. Es ist tatsächlich passiert und soll weiter im Gespräch bleiben, damit wir es auf keinen Fall vergessen. Es ist ein Roman, der zwar fiktive Figuren beschreibt, aber reale Ereignisse aufgreift, und zwar mehr, als ich es je in meinen historischen Romanen gemacht habe. Diese Unterscheidung ist wichtig.

Was möchtest Du den Leser*innen mitgeben und ihnen aufzeigen?

Ich möchte vor allem dazu anregen, dass sie über die vergangenen Geschehnisse nachdenken und daraus etwas für die Zukunft mitnehmen. Mir war wichtig, die Geschehnisse perspektivisch zu erzählen, damit sowohl Opfer als auch Täter ihre Sicht der Dinge beschreiben können. Ich wollte keine schlichte schwarz-weiß Darstellung unterstützen, in der die Attentäter als wortlose Monster abgestempelt werden. Ich möchte das noch einmal klar sagen: Nichts rechtfertigt Gewalt, erst recht nicht gegen Unschuldige, aber trotzdem wollte ich, beschreiben, in welches Leben diese Menschen hineingeboren werden und was sie dazu treibt, so fruchtbare Taten zu begehen. Es soll in meinem Buch nicht darum gehen, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und einfach die Schuld zuzuweisen oder gar Hass zu schüren. Ganz im Gegenteil: Ich denke, dass wir nur im Diskurs, bei dem wir uns alle Seiten und Sichten anhören, zu gemeinsamen Lösungen kommen können. Wenn das die Leser*innen mitnehmen können, freut mich das sehr.

Vielen Dank, Petra, für diesen exklusiven Einblick in Dein neues Buch, das am 25. Juli 2022 erscheinen wird.

Petra Mattfeldt München 72
(c) Petra Mattfeldt

Kurzbeschreibung:

München 72 – es sollen die heiteren Spiele werden, doch sie enden in einer Tragödie. Spannend, eindringlich, fiktiv – der Roman, der die Ereignisse greifbar macht.

München, 1972: Die „heiteren Spiele“ beginnen mit Jubel und Freude in der bayrischen Landeshauptstadt. Die Stimmung ist ausgelassen, Frieden und Fröhlichkeit überall spürbar. Angelika Nowak könnte kaum glücklicher sein. Sie wurde als einzige Bogenschützin ausgewählt, die DDR bei den Olympischen Spielen zu vertreten. Schnell freundet sie sich mit Roman an, einem Ringer der israelischen Mannschaft. Doch dann passiert etwas, mit dem niemand gerechnet hat. Am Morgen des 5. Septembers verändert ein Terroranschlag alles, und Roman ist eine der Geiseln …

Petra Mattfeldt erzählt aus der Sicht von fünf fiktiven Figuren, die auf realen Personen beruhen, die Ereignisse um das Olympiaattentat. Sie beschreibt ihre Gefühle, Ängste, Träume und Wünsche während der Olympischen Spiele und zeichnet ein spannendes, faszinierendes und erschütterndes Porträt des schwärzesten Tages der Olympiageschichte.

Quelle

  • Herausgeber ‏ : ‎ Blanvalet Verlag; Originalausgabe Edition (25. Juli 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 320 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3764508086
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3764508081
  • Preis: 16,00 EUR
  • Ebook: 12,99 EUR

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